US-Menschenversuche mit radioaktiven Stoffen

Begonnen von Lennart, 25. September 2023, 21:07

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Lennart

Die aktuelle Diskussion zu der "Plutonium-Affäre" hat mich an einen Artikel erinnert, den ich vor längerer Zeit mal gelesen hatte. Es handelt sich um einen Bericht über US-Menschenversuche u.a. mit Plutonium, erschienen in der 33. Ausgabe des Deutschen Ärzteblattes von 1994.

Siehe: https://www.aerzteblatt.de/archiv/88040/US-Menschenversuche-mit-radioaktiven-Stoffen-Die-Hintergruende-Basis-fuer-die-Dosisabschaetzung-einer-Plutonium-Inkorporation-zu-Lebzeiten
Oben rechts auf "PDF-Version" klicken für eine bessere Ansicht.

Die fraglichen Menschenversuche bilden auch jetzt noch die Grundlage für die Risikobewertung bzw. Dosisabschätzung bei einer Inkorporation von Plutonium, Zitat:

"Unabhängig von allen späteren kritischen Revisionen der einzelnen Beobachtungen stellen die Daten der Menschenversuche Langhams bis heute die wesentliche Basis der Formeln dar, mit denen die Dosis von Opfern einer Plutonium-Inkorporation zu Lebzeiten abgeschätzt werden muß (ICRP 54 1988)."

Bei den Versuchen wurden im Schnitt 13 kBq Pu-239 oder Pu-240 verabreicht.



Diskussion zur "Plutonium-Affäre": https://www.geigerzaehlerforum.de/index.php/topic,1947.msg24338/topicseen.html#msg24338

NoLi

Zitat von: Lennart am 25. September 2023, 21:07...
Bei den Versuchen wurden im Schnitt 13 kBq Pu-239 oder Pu-240 verabreicht. Die 50-Jahre-Folgedosis beträgt hierbei insgesamt ca. 312 (!) Sv.

Die in diesem US-Bericht angegebenen Plutonium-Aktivitätswerte und die daraus resultierenden 50-Jahre-Folgedosis passen überhaupt nicht mit den Angaben der Anlage 3, Tabelle 1 + 2, des Abschlussberichtes des Umweltministerium Baden-Württemberg überein!
https://um.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/m-um/intern/Dateien/Dokumente/3_Umwelt/Kernenergie/Berichte/Anlagen/Sonstige/WAK/Anlage_3_WAK.pdf

Ich habe gerade gesehen, der Bericht im Ärzteblatt stammt von Horst Kuni, einem von nationalen und internationalen Radiobiologen fachlich "sehr umstrittenen" Mitmenschen, der mit seinen Thesen und vor allem Beurteilungen in der Fachwelt weitgehend alleine da steht...
Letztendlich kommt es darauf an, in welcher Form und Verbindung das Plutonium verinnerlicht wird, und wie es sich im Stoffwechsel verhält.

Norbert

Lennart

Zitat von: NoLi am 25. September 2023, 22:15Die in diesem US-Bericht angegebenen Plutonium-Aktivitätswerte und die daraus resultierenden 50-Jahre-Folgedosis passen überhaupt nicht mit den Angaben der Anlage 3, Tabelle 1 + 2, des Abschlussberichtes des Umweltministerium Baden-Württemberg überein!

Stimmt da hast Du recht. Ich hatte die Werte nicht verglichen, sie erschienen mir aber ebenfalls sehr hoch.

Beispiel: Herr M. 6,6 kBq Pu-239/240 Ingestion = < 0,01 Sv Folgedosis nach 50 Jahren

Das ist ja schon die Hälfte der verabreichten 13 kBq...

Wie kommt der werte Horst Kuni auf die Werte? Man müsste mal die originalen Unterlagen zu den Versuchen sehen.


Henri

Zitat von: Lennart am 25. September 2023, 22:31Beispiel: Herr M. 6,6 kBq Pu-239/240 Ingestion = < 0,01 Sv Folgedosis nach 50 Jahren


Hier wird von der "Effektiven Dosis" gesprochen, also auf den gesamten Körper hochgerechnet.

"Die effektive Dosis ist die Summe der gewichteten Organdosen. Die Wichtungsfaktoren für die einzelnen Organe und Gewebe sind in Anlage 18 Teil C Nr. 2 der Strahlenschutzverordnung angegeben." (https://www.dguv.de/fb-etem/faq/faq_ionisierend/dosis/index.jsp#Anker6)

Die Knochenoberfläche hat nur einen Wichtungsfaktor von 0.01.


Im Artikel zu den Menschenversuchen wird z.B. von 247 Sv für die Knochenoberfläche gesprochen. Diese und die anderen Dosen, die hier (nicht im Artikel) zu 312 Sv aufgerechnet werden, sind jeweils Organdosen. Keine Ganzkörperdosen. Das Pu verteilt sich halt nicht gleichmäßig im Körper.

Lennart

Zitat von: Henri am 25. September 2023, 22:46Im Artikel wird z.B. von 247 Sv für die Knochenoberfläche gesprochen. Diese und die anderen Dosen, die hier (nicht im Artikel) zu 312 Sv aufgerechnet werden, sind jeweils Organdosen. Keine Ganzkörperdosen.

Das war etwas leichtfertig aufsummiert  ;)

Gewebe-Wichtungsfaktoren von 2007 (noch aktuell):

42,5 Sv * 0,04 (Faktor Leber) = 1,7 Sv
246,7 Sv * 0,01 (Faktor Knochenoberfläche) = 2,47 Sv
19,2 Sv * 0,12 (Faktor  rotes Knochenmark) = 2,3 Sv
3,6 Sv * 0,08 (Faktor Keimdrüsen) ~ 0,3 Sv
Aufsummiert ~ 6,8 Sv

Mit den Gewebe-Wichtungsfaktoren von 1990 wäre man z.B. bei den Keimdrüsen bei 3,6 Sv * 0,2 ~ 0,7 Sv, der Rest ist fast identisch.

Das passt doch trotzdem nicht zusammen...

Henri

Zitat von: Lennart am 25. September 2023, 23:00Das war etwas leichtfertig aufsummiert  ;)

246,7 Sv * 0,01 (Faktor für die Knochenoberfläche) = 2,47 Sv

Das passt doch trotzdem nicht zusammen...


Der Ärzteblatt-Artikel ist von 1994.

Die Berechnung zum Pu-Diebstahl: "Bei der Berechnung der effektiven Dosen für die drei Personen wurden die Dosisfaktoren für die allgemeine Bevölkerung zu Grunde gelegt, die im Zusammenhang mit der neuen Strahlenschutzverordnung vom 20.7.2001 im Bundesanzeiger am 23. Juli 2001 veröffentlicht worden waren."

Die aktuelle Strahlenschutzverordnung ist von 2018.

Vielleicht wurden die Werte angepasst?

Lennart

Zitat von: Henri am 25. September 2023, 23:05Vielleicht wurden die Werte angepasst?

Die Werte wurden angepasst, aber nicht wesentlich, siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Effektive_Dosis

Nur bei den Keimdrüsen wurde der Faktor relativ stark abgeändert. Die Werte auf Wikipedia von 2007 scheinen mit den aktuellen Zahlen deckungsgleich zu sein, siehe StrlSchV:

https://www.gesetze-im-internet.de/strlschv_2018/anlage_18.html


Je länger ich darüber nachdenke, desto weniger Sinn ergeben die Werte aus dem Artikel. Er gibt eine 50-Jahre-Folgedosis je Organ an, da müssten die Gewebe-Wichtungsfaktoren nach ICRP 60 von 1990 doch schon eingerechnet sein?!

Auf der anderen Seite schreibt er aber eben auch nur "Folgeäquivalentdosis" und nicht "effektive Folgeäquivalentdosis", also wäre das Weglassen der Gewebe-Wichtungsfaktoren wohl doch korrekt.

Die Frage ist nur, warum man die Werte so präsentiert. Vermutlich damit die Zahlen größer sind?

NoLi

Hier mal eine Stellungsnahme der Strahlenschutzkommission zu den "Berechnungen" des H. Kuni zur Neutronenstrahlung eines CASTOR-Transportes:

Zitat
"Zum Beitrag von H. Kuni, Marburg "Gefährdung der Gesundheit durch Strahlung des CASTOR"

Empfehlung der Strahlenschutzkommission

Verabschiedet auf der 132. Sitzung der SSK am 22.09.1995
Kurzinformationen

In einer Stellungnahme zu einem Beitrag von Prof. Kuni, Marburg, widerlegt die SSK dessen Hypothese, dass Neutronen aus dem CASTOR in etwa 300-mal biologisch wirksamer seien als γ-Strahlung. Die Einzelfaktoren, die multipliziert 300 ergeben, setzen sich aus nicht gerechtfertigten Werten zusammen. Darüber hinaus ist die Argumentation in sich fehlerhaft. Die Aussagen von Herrn Prof. Kuni erwiesen sich als haltlos. Von gesundheitsgefährdenden Strahlenbelastungen des Begleitpersonals oder der Bevölkerung durch die CASTOR-Transporte kann keine Rede sein.
"

Und die ganze Stellungnahme (3 Seiten) mit mehr Details:
https://www.ssk.de/SharedDocs/Beratungsergebnisse_PDF/1995/1995_09.pdf?__blob=publicationFile

Norbert

Henri

Zitat von: NoLi am 26. September 2023, 08:19Hier mal eine Stellungsnahme der Strahlenschutzkommission zu den "Berechnungen" des H. Kuni zur Neutronenstrahlung eines CASTOR-Transportes:

Herr Kuni ist/war immerhin ein Professor in der klinischen Nuklearmedizin am Uni-Klinikum Marburg, was natürlich nicht heißt, dass er sich nicht irren oder ihm mal bei Berechnungen ein Komma verrutschen kann. Genau wie die SSK ja auch kritisiert werden darf, weil sie die undankbare Aufgabe hat, eine Abwägung zwischen gesundheitlichen und ökonomischen Aspekten in der Arbeitswelt zu treffen. Über die Neutronen-Wichtungsfaktoren wird schon lange diskutiert, nicht nur von Hr. Kuni.

Es wurden ja in der Folgeausgabe der Zeitschrift mehrere Leserbriefe abgedruckt, in keinem davon wurde aber eine ggf. falsche Höhe der empfangenen Dosis kritisiert.

Auf seiner Website findet sich unter https://www.kuni.org/h/pb_list2.htm#listbeg eine 2007 publizierte, zweite durchgesehene Auflage seines Artikels aus 1994: https://www.kuni.org/h/all-doc/puversuche.pdf
Die fraglichen Werte stehen hier unverändert. Vielleicht sind sie tatsächlich falsch.


Letztendlich ist das aber nur ein Nebenschauplatz. Im Mittelpunkt des Artikels steht die Aussage, dass ohne Wissen der behinderten, schwangeren oder minderjährigen Probanden diese einer potentiell gesundheitsschädigenden Applikation von Radionukliden ausgesetzt wurden, und sich dies wohl auch in einer erhöhten Krebserkrankungsrate niederschlug: "Zwanzig Jahre später soll in einer Folgestudie bei den Kindern [der schwangeren Versuchspersonen] ein ,,kleiner, aber signifikanter" Anstieg von Krebserkrankungen nachgewiesen worden sein."

Lennart

#10
Ich habe mal eine vernünftige Quelle zu den Experimenten gesucht und auch gefunden:

https://sgp.fas.org/othergov/doe/lanl/pubs/00326640.pdf

Auf Seite 33 werden Werte für die gesamte effektive Dosis vom Zeitpunkt der Injektion bis zum Tod genannt und auf der vorherigen Seite befindet sich die Liste der unfreiwilligen Probanden.

Beispiel: Proband HP-6 (männlich, 44 Jahre)
Verabreichte Aktivität von Pu-239: 330 nCi ~ 12,2 kBq
Dosis: 990 rem ~ 9,9 Sv akkumuliert in 38,2 Jahren

Vergleich mit den Werten von Kuni:

Gewebe-Wichtungsfaktoren nach ICRP 60 von 1990:

42,5 Sv * 0,05 (Faktor Leber) = 2,1 Sv
246,7 Sv * 0,01 (Faktor Knochenoberfläche) = 2,47 Sv
19,2 Sv * 0,12 (Faktor  rotes Knochenmark) = 2,3 Sv
3,6 Sv * 0,2 (Faktor Keimdrüsen) ~ 0,7 Sv

Aufsummiert ~ 7,6 Sv effektive Dosis über 50 Jahre

Bezüglich der ermittelten Dosiswerte sollte man beachten, dass die Ausscheidungsrate für Plutonium 1994 durch eine erneute Überprüfung der Studien angepasst und nach oben korrigiert wurde.

Die ursprüngliche Annahme von Langham war eine Ausscheidung von 11,1 % nach 10.000 Tagen (~ 27 Jahre)

Die aktualisierte Rate nach Moss und Tietjen beträgt 32 % in 10.000 Tagen

siehe "Table 3" auf S.44

Interessant auch das Fazit auf S.46:

Zitat: "The most uncertain step is this last one — the calculation of a dose from a known plutonium distribution. For example, although it is well established that much of the plutonium in the bone is concentrated on the endosteal surfaces, there is still a great deal of controversy about how to calculate the actual dose from this deposition. Plutonium that is directly on top of the surface will impart a much higher dose to the osteocytes (bone cells) than plutonium that is buried in the bone matrix, even if only by a few hundred micrometers. The only evidence that actual doses may be less than was originally assumed is the fact that none of the human plutonium patients and none of the plutonium workers (with one possible exception) who lived many years with plutonium in their bodies have exhibited any evidence of plutonium-induced tumors. This outcome is in high contrast to radium, where many cases of tumors were obviously present above certain threshold levels. "



Henri

Zitat von: Lennart am 26. September 2023, 16:19Ich habe mal eine vernünftige Quelle zu den Experimenten gesucht und auch gefunden:


Ah, prima! Dafür war ich zu faul!  :good2:  ;D

Das passt dann doch alles in der Größenordnung. Bei den Organdosen wurden ja auch nicht sämtliche Organe aufgelistet.

Das Fazit von S. 46 ist tatsächlich interessant. Bei Nukliden mit kurzer bis sehr kurzer Reichweite kommt es halt extrem darauf an, wo im Körper sie deponiert werden und wie strahlenempfindlich das umliegende Gewebe ist. Pauschale Aussagen lassen sich gar nicht treffen, sondern man muss tief ins Detail gehen, und die biologische Halbwertszeit ist nur eines von vielen.

Und auch der Expositionspfad ist wichtig: bei Plutonium ist die Inhalation unlöslicher Mikropartikel  viel gefährlicher als die Inkorporation über den Verdauungstrakt. Wenn ich mich recht erinnere, wurde das bei der Dosisabschätzung in der "Hirschgraben-Affäre" gar nicht differenziert? Muss ich nachher noch mal nachlesen...

opengeiger.de

Zitat von: Henri am 26. September 2023, 18:57Wenn ich mich recht erinnere, wurde das bei der Dosisabschätzung in der "Hirschgraben-Affäre" gar nicht differenziert? Muss ich nachher noch mal nachlesen...

Nein, Inhalation und Ingestion wurden bei der Pu-Analyse der Hirschgrabenerde nicht unterschieden. Es ging immer nur um das Verschlucken, z.B. durch ein spielendes Kind am Bach. Man muss allerdings auch sehen, dass der Hirschgraben quasi ein "Feuchtgebiet" darstellt und die Erde an der Böschung nur selten abtrocknet.

Henri

Zitat von: opengeiger.de am 26. September 2023, 20:51Nein, Inhalation und Ingestion wurden bei der Pu-Analyse der Hirschgrabenerde nicht unterschieden. Es ging immer nur um das Verschlucken, z.B. durch ein spielendes Kind am Bach. Man muss allerdings auch sehen, dass der Hirschgraben quasi ein "Feuchtgebiet" darstellt und die Erde an der Böschung nur selten abtrocknet.

Das ist ein wenig wie beim Karatschai-See: solange der Hirschgraben nicht austrocknet, ist das kein Problem... 

Die Bachelorarbeit hatte ja ca. 500 Bq Pu pro kg Bodenprobe nachgewiesen. Europaweit hat man allein durch den Kernwaffentest-Fallout ca. 0,115 Bq/kg Pu im Boden (https://www.openagrar.de/servlets/MCRFileNodeServlet/Document_derivate_00007357/S1811f.pdf). Also wird's doch nicht ganz so schlimm wie am Karatschai-See.

Lennart

#14
Zitat von: Henri am 26. September 2023, 23:02Das ist ein wenig wie beim Karatschai-See: solange der Hirschgraben nicht austrocknet, ist das kein Problem... 


Das ist ein gewagter Vergleich  :D

Was in Deutschland als "Plutonium-Affäre" bezeichnet wird, ist in Majak ein stinknormaler Arbeitstag...  ;)

Das Problem am besagten See ist der Eintrag von 120 MCi bzw. 4,44 x 10^18 Bq an Spaltprodukten (~80 % Cs-137) und die daraus resultierende ODL von ~200 mSv/h am Randbereich. An der Einleitungsstelle waren es Anfang der 90er Jahre ~6 Sv/h...
An dieser Stelle beträgt die Bodenkontamination 740 GBq / kg Trockenmasse.

Siehe: https://www.annualreviews.org/doi/abs/10.1146/annurev.eg.18.110193.002451     /     Seite 12

Links oben kann die .pdf heruntergeladen werden.

Stand jetzt ist der See komplett verfüllt und zubetoniert.

Da muss das KIT noch eine Schippe drauflegen. Man könnte den Hirschgraben anschließend als Naturschutzgebiet ausweisen, in Anlehnung an:

https://en.m.wikipedia.org/wiki/East_Ural_Nature_Reserve