Gammakompensierte Neutronen-Ionisationskammer

Begonnen von Gigabecquerel, 30. Dezember 2024, 23:10

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Gigabecquerel

Moin Liebe Leute,

Ich bin mir nicht sicher ob das hier das richtige Unterform ist, falls nicht gerne verschieben  ;)
Zur Abwechslung dacht ich mir ich präsentiere hier mal einen weniger alltäglichen Detektor:
Die Gammakomensierte Neutronen-Ionisationskammer!

Die Was Bitte?

Zerlegen wir den Begriff mal.
Eine Neutronen-Ionisationskammer ist eine Ionisationskammer, die Neutronen sieht.
Da Neutronen ja nicht direkt durch Ionisation messbar sind muss man sich irgendwelche Kernreaktionen zu nutzen machen. In diesem Fall reden wir von langsamen Neutronen, da ist die gängigste Methode der Einfang in ¹⁰B mit resultierendem Ausstoß eines Alpha, mit knapp 2.3 MeV. Das ionisiert dann ein Gas, es kann ein Strom fließen, Ionisationskammer eben.

Das Prinzip hat aber ein kleines Problem, und zwar, dass das Gas nicht nur durch den Einfang ionisiert werden kann. Wenn man einen Neutronenfluss in einem hohen Gamma-Feld messen will bekommt man einen falsch-hohen Messwert, denn die Gammas erzeugen auch einen Strom, den man nicht vom Neutronenstrom messen kann.

Hierzu hat sich mal jemand sehr cleveres (und es tut mir leid, ich weiß wirklich nicht wer) Gedanken gemacht und hatte eine brilliante Idee: Wir kommen zur "Gammakompensation" des Detektornamens.
Die Ionisation durch Gammas kann man hier nicht verhindern, wir reden von zwei- bis fünfstelligen Gy/h, keine Schirmung wird da helfen. Der erste Schritt wäre es wohl einen Detektor, der die Gamma-Dosisleistung misst, neben die Ionisationskammer zu stellen und dann den daraus resultierenden Strom irgendwie raus zu rechnen. Aber das ist Kompliziert und setzt voraus, dass man die gamma-response der Kammer genau kennt. Also baut man zwei gleiche Kammern, eine mit Borbeschichtung und eine ohne. Die mit Bor misst Neutronen plus Gammas, die andere nur Gammas, man zieht den zweiten vom ersten Wert hab und hat nur noch den Neutronenstrom! Aber es ist doppelt so aufwändig zwei Detektoren zu bauen, man braucht doppelt so viel Platz und doppelt so viel Ausleseelektronik. Also kombiniert man beides in einem!
Hier sind wir endlich bei unserem Detektor hier angekommen. Die kompensierte Ionisationskammer besteht eigentlich aus zwei Kammern, von denen eine Neutronen sieht, die beide eine Elektrode teilen!
Man hat drei Elektroden, eine auf negativer HV, eine auf null Volt die man als Signalelektrode nutzt und eine auf positiver HV. Im einfachsten fall ist der durch Gammas hervorgerufene Ionisationsstrom in beiden Kammern exakt gleich, dadurch gleichen sich die positiven und negativen Ströme genau aus und an der Signalelektrode sieht man genau garkeinen Strom. Kommen nun Neutronen dazu erzeugen sie in der beschichteten Kammer einen zusätzlichen Strom und das Signal ist nicht mehr Null!

Elektrisch sieht das dann so aus:
Sie dürfen in diesem Board keine Dateianhänge sehen.
Bild geliehen (mit der ehrlichen Absicht es wieder zurück zu geben!) von:
https://assets-mirion.mirion.com/prod-20220822/cms4_mirion/files/pdf/spec-sheets/knu-knu-50-ach-data-sheet.pdf

Jetzt haben wir aber ein kleines Problem. Die Gammaströme in beiden Kammern addieren sich nur dann auf Null auf, wenn beide Kammern exakt gleich sind. Technisch ist das sehr schwer und oft nicht möglich, also braucht man eine Methode um beide Kammern aneinander anzugleichen. In den ersten Iterationen wurde dies Mechanisch gelöst, im einfachsten Fall waren es Platten-Ionisationskammern, bei denen man den Plattenabstand und damit das aktive Gasvolumen einstellen konnte, spätere Versionen wurden dann Hohlkegel, in die man eine kegelförmige Elektrode einführt um das Volumen zu ändern.
Mechanik ist hier aber auch nicht ideal, da sie sich verstellen kann, festgammeln kann, sich etwas lösen kann und so weiter. Heute wird praktisch nur noch eine elektrische Einstellmethode der Kompensation genutzt. Hierzu wird die Kompensationselektrode absichtlich "schlecht" gebaut, sodass in der Kammer viele Ionen-Elektronen-Paare wieder Rekombinieren können. Durch ändern der Kompensationsspannung kann sehr genau bestimmt werden welcher Anteil Rekombiniert, dadurch wird effektiv die Empfindlichkeit eingestellt, genau wie wenn man das Gasvolumen ändern würde.

Aber wie sieht das ganze praktisch aus?
Ich bin glücklicher Besitzer eines Schnittmodells so einer Kammer, dem ich gestern das Alugehäuse durch Plexiglas ersetzt habe, daher kam auch die Motiviation für diesen Post hier. Diese Kammer hat einen Durchmesser von ca. 8 cm und ist ca. 50 cm hoch, damit ist sie schon eins der größeren Modelle. Man sieht schön die drei konzentrischen Elektroden, die äußerste ist auf der Innenseite Bor-beschichtet, danach kommt die Signalelektrode, danach die Kompensationselektrode. Außenrum gehört eigentlich ein Alugehäuse, gefüllt wird das ganze mit ca. 1 Bar Stickstoff. Elektrisch ist die Kammer denkbar simpel, unten gibts drei hermetisch Durchführungen, das Gehäuse selbst ist geerdet.

Wo werden solche Kammern verwendet?
Ihr habts euch wohl schon gedacht: In Kernreaktoren.
Wichtig anzumerken ist aber, dass das hier kein In-Core Detektor ist, da dort sowohl Gamma- als auch Neutronenflüsse zu hoch sind. Im Kern nutzt man Spaltkammern und SPNDs, aber das ist ein anderes Thema. Nein, eine Kammer wie diese wird nahe dem Kern genutzt um dort Neutronenflüsse im Start- und Zwischenbereich, bei kleinen Reaktoren auch im Leistungsbereich zu messen.

Ich hoffe ich konnte euch etwas neues Zeigen und habe das auch halbwegs verständlich erklärt  ;)
Wie immer sind Fragen aller Art willkommen!


Strahlende Grüße,
Lukas
Gammaspektroskopie, Proportional- und Halbleiterzähler!

DG0MG

Vielen Dank für die ausführliche Erklärung auf sehr verständlichem Niveau!  :)
Wahrscheinlich hätte ich nicht definieren können, was das für ein Ding ist, wenn ich es in die Hände bekommen hätte. Wer ist denn der Hersteller?

Zitat von: Gigabecquerel am 30. Dezember 2024, 23:10und an der Signalelektrode sieht man genau garkeinen Strom.

Das Prinzipbild sieht aus wie beim Ionisationsmelder: 2 Ionisationskammern in Reihe, die einen Spannungsteiler bilden. Kann es sein, dass die SPANNUNG an der Signalelektrode gemessen wird?




"Bling!": Irgendjemand Egales hat irgendetwas Egales getan! Schnell hingucken!

Gigabecquerel

Klar, gerne!
Beim Hersteller bin ich mir selber nicht ganz sicher... ich vermute MGP Instruments, heute Mirion.
Ich bin mir sicher, dass dort ein Strom und keine Spannung gemessen wird, wenn du dir das verlinkte Datenblatt unter der schematischen Zeichnung anschaust stehen stehen dort auch Ströme als Empfindlichkeit.
Zwingt man die Signalelektrode nicht auf null so ändern sich die E-Felder in beiden Kammern, wodurch unter anderem wieder die Kompensation geändert wird. Außerdem sind Spannungen sehr empfindliche Dinger, die mit extremen Impedanzen gemessen werden müssen, wo dann wieder Isolationswiderstände von Kabeln problematisch werden, wenn der Detektor seine Temperatur ändert können sich Thermospannungen ändern etc.... da sind die Ströme, obwohl sie auch sehr klein sind, bedeutend einfacher zuverlässig zu messen.
Gammaspektroskopie, Proportional- und Halbleiterzähler!

NoLi

Dieses Prinzip der Kompensation des Gamma-Untergrundes durch eine die erste umgebende zweite Messkammer verwendet man beispielsweise auch bei (Raumluft)Tritium-Monitore der Fa. BERTHOLD und MAB, als Durchflußionisationskammer oder Durchflußproportionaldetektor.

Norbert

Gigabecquerel

Bist du sicher, dass das gegen Gammas ist?
Klar, ein Koinzidenz-Veto ist mir bekannt, aber meist wird das gegen Cosmics und ähnliches verwendet, da Gammas ja nur "einmal" interagieren.
Interagiert ein Gamma in der Abschirmkammer über den Photoelektrischen Effekt ist es weg und kann die Messkammer nichtmehr erreichen, damit dort auch kein falsches Signal erzeugen. Interagiert es über zb. Compton hat es eine Chance nochmal in der Messkammer was zu lassen, aber die wahrscheinlichkeit ist astronomisch klein bei normalem Hintergrund.
Cosmics geben als geladene, hochenergetische Teilchen zuverlässig Ionisationsspuren in beiden Kammern und können damit als Koninzidenz rausgenommen werden.
Gammaspektroskopie, Proportional- und Halbleiterzähler!

NoLi

Mindestens 3/4, eher mehr, aller ionisierenden Photonen wechselwirken über den Comptoneffekt.

Norbert

Zugpferd

Und so'n Ding baut man dann aus dem FRM I oder II aus? Gut beschrieben muss ich sagen, kenne solche Dinger gar nicht. Gutes Museumsstück.

Gigabecquerel

Zitat von: NoLi am 01. Januar 2025, 15:04Mindestens 3/4, eher mehr, aller ionisierenden Photonen wechselwirken über den Comptoneffekt.

Das ist natürlich Korrekt, vorallem bei dem kleinen Z, das die meisten Zählgase haben.
Aber die allermeisten Photonen interagieren garnicht in üblichem Zählgas.
In 2 cm Argon (geratene Kammergröße und Zählgas) interagieren knapp 0.02% aller 1 MeV (geratenes Hintergrundphoton) Gammas, verlieren diese durch Compton die Hälfte der Energie (geratener Streuwinkel) erhöht sich die chance auf ca. 0.03%, dass das gestreute Photon nochmal in 2 cm Argon interagiert und damit überhaupt als Koinzidenz gemessen werden kann.

Ein 1 GeV Muon (geratenes Cosmic) hat ein dE/dx von ca. 10 keV/cm in Argon, was in einer 2 cm Kammer ca. 1000 Elektron-Ionen Paaren entspricht, die sich in einem Proportionalzähler sehr gut messen lassen.

Zitat von: Zugpferd am 01. Januar 2025, 15:22Und so'n Ding baut man dann aus dem FRM I oder II aus?
der FRM-2 Braucht seine Kammern (zum Glück!) noch, für den FRM-1 wär ich da leider zu spät dran, das Ei ist schon seit langem Leer. Nein, die Kammer war ein "Kellerfund" beim ausmisten auf der Arbeit.
Gammaspektroskopie, Proportional- und Halbleiterzähler!

NoLi

Die Efficiency bei üblichem P10-Gas (90% Argon + 10% Methan) liegt bei 0,3% (2-Pi), bei Propan/Butan (15%/85%) bei 0,25% (2-Pi).
Alle mir bekannten Durchfluß-Proportionaldetektoren arbeiten mit P-10 Gas, lediglich ganz alte mobile Geräte (Fa. MAB, Münchener Apparate Bau) verwendeten Gaspatronen wie bei Camping-Kocher und Camping-Gaslampen (diese stinken fürchterlich). Hier musste manuell vor der Messkammer über zwei kleine Rotameter ein Gas-Luft-Gemisch in einem Verhältnis von 2 : 1 eingestellt werden. Bei neueren Geräten erfolgte dies automatisch.

Norbert