Theorie: Neutronenaktivierung von Eisen und Stählen

Begonnen von Einsteinium, 09. November 2023, 13:51

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Einsteinium

Viele kennen sicher von Fotos oder Videos den berühmten Heikopter-Friedhof von Tschernobyl, dem wohl strahlendsten Schrottplatz der Welt.
Damals, als ich von Radiophysik noch nichts verstand, dachte ich, das Problem wäre die Kontamination durch Stoffe aus dem Reaktor und die Maschinen bräuchten lediglich eine gründliche Reinigung.
Natürlich ist das Problem aber, dass der Stahl der Maschinen durch Neutroneneinfang selbst zum Strahler wurde.

Ich würde gern den wohl sehr aspektreichen Mechanismus begreifen. In meinen Büchern fand sich nichts und die Amateurliteratur (Wikipedia) gibt nichts her. Hat oder kennt jemand vielleicht eine Abhandlung speziell darüber? Oder tragen wir es hier zusammen?

Ausgehend von reinem Eisen haben wir ja die 4 stabilen Naturisotope 54, 56, 57 und 58, von denen 56Fe mit über 91% absolut dominiert. Subdominant ist dann 54Fe mit 5,8%.
Von den instabilen ist 60Fe das längste mit 2,6 Mio Jahren, 55Fe hätte 2,7 Jahre.
Um aus dem Mengenisotop 56Fe 60Co werden zu lassen, müssten nacheinander ja sage und schreibe 4 Neutronen eingefangen werden. Läge statt reinem Eisen Kobaltstahl vor (59Co) wäre die Sache ja einfach.

Nun gibt es ja unzählige Legierungsmetalle von Nickel bis sogar Wolfram und auch Nichtmetalle (C und Si). Da hochlegierte Stähle aber i.d.R. nur Werkzeugstähle sind, gehen wir der Einfachheit halber nur von niedriglegierten Stählen als Konstruktionsstähle aus, die im einfachsten Fall außer Eisen nur Kohlenstoff enthalten. Wie werden diese harmlosen Naturisotope nach einen Nuklear-Ereignis dann zu Strahlenkanonen?
Im bequemsten Fall hat vielleicht jemand schon eine Aufstellung dazu.

Radium

Moin,
Ist in so einem Helikopter nicht relativ wenig Eisen bzw. Stahl drin? Die sind doch eher aus Titan und Aluminium. Welche Isotope wären das denn, wenn die immer noch strahlen?
Geigerzähler: DP-66, FH 40 TV, IT-65, Szintillationszähler: RAM-63,

Lennart

Zitat von: Einsteinium am 09. November 2023, 13:51Damals, als ich von Radiophysik noch nichts verstand, dachte ich, das Problem wäre die Kontamination durch Stoffe aus dem Reaktor und die Maschinen bräuchten lediglich eine gründliche Reinigung.
Natürlich ist das Problem aber, dass der Stahl der Maschinen durch Neutroneneinfang selbst zum Strahler wurde.

Das würde ich so nicht unterschreiben. In den meisten Fällen handelt es sich schon hauptsächlich um eine massive (mehr oder weniger lose anhaftende) Kontamination. Ein gewisser Neutronenfluss war auch bei den Trümmerteilen um das Kraftwerk herum vorhanden, aber sicher nicht in ausreichendem Maße um z.B. einen Panzer oder Bagger so eklatant zu aktivieren, dass dadurch eine gefährliche Dosisleistung entsteht.

Ich habe einige Stücke Pechblende in abgedichteten Schraubgläsern aus Glas und Du würdest dich wundern wie schwierig es ist, die Radonkontamination (Folgeprodukte) vollständig durch Einseifen und Abwaschen zu entfernen. Besonders im Bereich der Dichtung und den Ecken bleibt immer genug zurück, um mit dem Kontaminationsmonitor noch eine steigende Zählrate auszumachen. So kann man sich ungefähr vorstellen wie unfassbar schwer es ist, große und verwinkelte Gegenstände vollständig zu dekontaminieren.

Hier mal ein Beispiel ab Minute 5:


etalon

Zitat von: Einsteinium am 09. November 2023, 13:51Viele kennen sicher von Fotos oder Videos den berühmten Heikopter-Friedhof von Tschernobyl, dem wohl strahlendsten Schrottplatz der Welt.
Damals, als ich von Radiophysik noch nichts verstand, dachte ich, das Problem wäre die Kontamination durch Stoffe aus dem Reaktor und die Maschinen bräuchten lediglich eine gründliche Reinigung.
Natürlich ist das Problem aber, dass der Stahl der Maschinen durch Neutroneneinfang selbst zum Strahler wurde.
...

Nein, das ist definitiv nicht die Ursache! Wie kommst du denn zu der Erkenntnis?

Ohne jetzt grundsätzlich auf den Vorgang der Aktivierung durch (thermische) Neutronen eingehen zu wollen (da schreibe ich mir sonst die Finger wund, das gibt es auch schon zur Genüge niedergeschrieben), kam damals der Neutronenfluss mit der Explosion und der Kernschmelze des RBMK zum Erliegen. Was man noch hatte, waren Quellneutronen aus der Spontanspaltung, welche zum Teil durch das vermengte Graphit noch moderiert wurden. Aber das sind vieeele Größenordnungen weniger als der Neutronenfluss im Kern während eines geregelten Leistungsbetriebs.
Hinzu kommt dann noch der Abstand der Helikopter im Einsatz (Abstandsquadratgesetz!), die kurzen Aufenthaltszeiten im Neutronenfeld und die geringen Einfangquerschnitte der im Fluggerät verbauten Leichtmetalle. Alles zusammen lässt eine relevante Aktivierung absurd erscheinen. Das ist alles Kontamination, hauptsächlich mit Cs-137.

Henri

Zitat von: Lennart am 09. November 2023, 14:41Du würdest dich wundern wie schwierig es ist, die Radonkontamination (Folgeprodukte) vollständig durch Einseifen und Abwaschen zu entfernen. Besonders im Bereich der Dichtung und den Ecken bleibt immer genug zurück, um mit dem Kontaminationsmonitor noch eine steigende Zählrate auszumachen. So kann man sich ungefähr vorstellen wie unfassbar schwer es ist, große und verwinkelte Gegenstände vollständig zu dekontaminieren.

Im Rückbau von Kernkraftwerken wird das in der Regel dadurch gelöst, dass man die Oberflächen sandstrahlt. So kann dann der allergrößte Teil des Materials (nach Freimessen) wieder zurück in den Wirtschaftskreislauf.


DL1YA

Hallo,

also, ich finde die Frage von Einsteinium in der Tat sehr interessant. Genau diese Frage verstehen
wohl Millionen in Deutschland nicht. Strahlt das Metall selbst oder handelt es sich "nur" um Kontamination?
Wenn ich die Antworten richtig deute, wäre also sämtliches Gerät, was danach einfach verschrottet wurde,
durch gründliche Reinigung wiederverwendbar gewesen? Gerade bei groben Metallteilen, wie dem Kran, wäre
es dann eurer Meinung nach durch eine Hochdruckreinigung wieder sauber geworden? Radonkontamination (Folgeprodukte) haftet ja ganz schön an Oberflächen, aber welche Stäube/Teilchen spielten denn dort eine Rolle?
 

Weitere Erläuterungen sind willkommen...  :)



Lennart

Zitat von: DL1YA am 10. November 2023, 16:27also, ich finde die Frage von Einsteinium in der Tat sehr interessant. Genau diese Frage verstehen
wohl Millionen in Deutschland nicht. Strahlt das Metall selbst oder handelt es sich "nur" um Kontamination?

Wie @etalon schon geschrieben hat, braucht es einen moderierten Neutronenfluss um Material zu aktivieren oder extrem hochenergetische Gammastrahlung (> 2 MeV). Ein derartiger Neutronenfluss findet sich z.B. im Reaktordruckbehälter eines KKW, somit sind alle RDB-Einbauten aktiviert und können nicht einfach dekontaminiert werden. Hier sieht man wie sich die Aktivität der Bauteile je nach Nähe zum Kern verhält:

https://www.siempelkamp.com/unternehmen/erfolgsgeschichten/3d-aktivierungsrechnungsverfahren/

Bei Tschernobyl-Trümmerteilen war der Neutronenfluss durch Spontanspaltung zu gering, die "Einwirkzeit" zu kurz und die Moderation nicht oder nur teilweise gegeben.

Eine Aktivierung des Cobalt-Legierungsbestandteils von Stahl würde sich durch die kurze HWZ von 5,3 Jahren relativ schnell von selbst beheben (10x HWZ). Bei Nickel-63 beträgt die HWZ allerdings 100 Jahre.

Hier kann man am Beispiel des RDB vom Nuklearschiff "Otto Hahn" sehen, mit welchen Aktivitäten man rechnen muss:

https://www.hereon.de/imperia/md/content/hzg/presse/d/2016/abbau_rdbms_ns_otto_hahn.pdf

Zitat von: DL1YA am 10. November 2023, 16:27Wenn ich die Antworten richtig deute, wäre also sämtliches Gerät, was danach einfach verschrottet wurde,
durch gründliche Reinigung wiederverwendbar gewesen?

Ich denke die Wirtschaftlichkeit war bei der Menge an Material und Fahrzeugen nicht gegeben. Man müsste die Fahrzeuge in einer großen Strahlkammer behandeln oder zerlegen und wenn die Fahrzeuge nicht mit militärischen ABC-Filteranlagen ausgestattet sind, befindet sich auch eine Kontamination im Innenraum.

Zitat von: DL1YA am 10. November 2023, 16:27Radonkontamination (Folgeprodukte) haftet ja ganz schön an Oberflächen, aber welche Stäube/Teilchen spielten denn dort eine Rolle?

Alles was hochgradig mobil ist und sich an Staubpartikel haftet. Wie schon beschrieben hauptsächlich Cs-137. Nuklide mit kurzer HWZ spielen Jahre nach dem Unfall keine Rolle mehr (I-131 usw.). Cäsium ist eben ein sehr leichtes, weiches und reaktives Element.

DL1YA

Na das nenn ich mal ne Antwort, vielen Dank!
In den ganzen Videos über Chernobyl sieht man oft Metallteile im Wald herumliegen, die strahlen.
Direkt daneben, im Boden gibt es aber fast keinen Ausschlag der Messgeräte. Heisst das, dass die Partikel
sich gerade an Metallen festklemmen und das Cs137 in den Boden mit dem Wasser versickert, so dass
deswegen dort "nur" noch die Metallteile "hot" sind, wenn man herumläuft? Warum wurden diese Partikel
nicht durch den Regen längst ausgewaschen wie im Boden?




NoLi

Vermutlich hängt dies mit der Elektronenaffinität zwischen zwei Elementen, hier Eisen und dem Cäsium, zusammen.

Beispielsweise bei Eisen und Pb-210 (Radon-Folgeprodukt; Auswaschung aus der Atmosphäre durch Regen) bedeutet dies, dass auf Grund der Zerfallsreihe von Pb-210 (Beta) --> Bi-210 (Beta) --> Po-210 (Alpha) auf älteren Gußeisenkanaldeckeln in geringer Menge Alpha-Strahlung (vom Po-210) gemessen werden kann, welches sehr stark anhaftend ist und sich selbst mit einem Druckwasserstrahl nicht entfernen lässt.

Norbert

Lennart

Zitat von: DL1YA am 10. November 2023, 17:41In den ganzen Videos über Chernobyl sieht man oft Metallteile im Wald herumliegen, die strahlen.
Direkt daneben, im Boden gibt es aber fast keinen Ausschlag der Messgeräte. Heisst das, dass die Partikel
sich gerade an Metallen festklemmen und das Cs137 in den Boden mit dem Wasser versickert, so dass
deswegen dort "nur" noch die Metallteile "hot" sind, wenn man herumläuft?

Also zunächst mal erfolgte die Kontamination der Geräte und Fahrzeuge vermutlich eher selten an dem Ort, wo man diese schlussendlich abgestellt hat.

Der Grund für die geringere Umgebungsstrahlung liegt aber auch teilweise daran, dass die Erde in weiten Teilen komplett umgegraben wurde. Im "roten Wald" hat man sich das gespart, dort liegt die ODL in Bodennähe deutlich über etwaigen Gerätschaften oder Fahrzeugen. Hier sieht man auch heute noch abenteuerliche Werte:


Zitat von: DL1YA am 10. November 2023, 17:41Warum wurden diese Partikel
nicht durch den Regen längst ausgewaschen wie im Boden?

Wie in der Küche auch braucht man für eine erfolgreiche Reinigung meistens nicht nur einen Wasserstrahl, sondern auch ein Reinigungsmittel (Tenside zur Herabsetzung der Oberflächenspannung) und vor allem auch mechanische Krafteinwirkung mit Bürste und Co. Man darf auch nicht vergessen, dass die Oberflächenbeschaffenheit der Objekte eine gewisse Rolle spielt. Bei den Kettenfahrzeugen hat man relativ grobporigen Stahlguss, Rost, Lackreste und wenig polierte Oberflächen. Da haften Partikel besonders gut. Darüber hinaus werden die Partikel im Laufe der Zeit vermutlich auch in die frischen Rostschichten eingebunden und quasi fixiert.



DL1YA

Vielen Dank...also kurz zusammengefasst: ist das Disaster erst passiert, kriegt man die
Schweinerei einfach nicht mehr weg. Na Prost Mahlzeit. Bin gespannt, wo das nächste Kernkraftwerk in
die Luft fliegt. Lassen wir uns überraschen. Alles nur eine Frage der Zeit. >:(

Vg!

NuclearPhoenix

Zitat von: DL1YA am 13. November 2023, 21:58Na Prost Mahlzeit. Bin gespannt, wo das nächste Kernkraftwerk in
die Luft fliegt. Lassen wir uns überraschen. Alles nur eine Frage der Zeit. >:(
Naja, ja... aaaber Unfälle in kerntechnischen Anlagen werden auf jeden Fall seltener. Das sieht man ganz deutlich, wenn man sich die Geschichte der letzten 50 oder 60 Jahre anschaut. Großteils natürlich auch, weil man aus den Fehlern der Vergangenheit lernt. ;)
Heißt natürlich nicht, dass nichts mehr passieren kann, das ist klar. :unknw:

DL1YA

Da fällt mir nur der Spruch ein:

Die Geschichte lehrt die Menschen, daß die Geschichte die Menschen nichts lehrt.

 ;D


Wir werden also sehen, die nächsten Jahre  ;)


Radium

Zitat von: DL1YA am 14. November 2023, 10:42Wir werden also sehen, die nächsten Jahre  ;)

Dann kann man endlich mal den R/h Messbereich mit echter Strahlung ausprobieren  :crazy:  Aber mal im Ernst, wenn in Frankreich ein grenznahes AKW in die Luft fliegt, zieht hier einiges rüber.
Geigerzähler: DP-66, FH 40 TV, IT-65, Szintillationszähler: RAM-63,