S-35 Schwefel-35

Begonnen von DG0MG, 21. Februar 2023, 13:19

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DG0MG

Ich habe hier eine Frage gefunden, unter der ich mir nicht so richtig etwas vorstellen kann:

https://www.komnet.nrw.de/_sitetools/dialog/6652

"Wir sind ein kleines Biotech-Start-up Unternehmen und wollen Arbeiten mit S35 unterhalb der Freigrenze durchführen. [..]"

Schwefel-35 hat
  • eine HWZ von 87,3 d,
  • eine Freigrenze (Spalte 2) von 108 Bq,
  • eine Freigrenze (Spalte 3) von 102 Bq/g,
  • ist ein Beta-Strahler

Insbesondere wird in der Antwort einerseits darauf eingegangen, dass die Summenformel nur zur Anwendung kommen muss, wenn nicht "ausreichend sichergestellt ist, dass die radioaktiven Stoffe nicht zusammenwirken können." Den Satz fand ich interessant, wo steht der?
Andererseits wird (vermutlich richtigerweise) darauf hingewiesen, dass zur Bestimmung der Gesamtaktivität unterhalb Freigrenze sowohl "frisches" wie auch der zum Abklingen gestellte Abfall zu berücksichtigen ist.
Es steht auch in der Antwort ( @etalon  wirds freuen  ;) ) dass Anlage 4, Spalte 3 ebenfalls zu beachten ist, da stehen 100 Bq/g. Nur geht diese (eventuell negative) Aussage in der restlichen, für den Fragesteller eher positiven Aussage etwas unter.

Wofür genau könnte ein "Biotech-Start-up"-Unternehmen <100 MBq S-35 brauchen?
In welcher Form (fest, Pulver, Gas, flüssig etc., als Element oder Verbindung) liegt das vor?
Wie wird das hergestellt?
Wäre es wirklich vorstellbar, dass soetwas ohne behördliche Genehmigung abläuft?
"Bling!": Irgendjemand Egales hat irgendetwas Egales getan! Schnell hingucken!

miles_teg

ZitatWofür genau könnte ein "Biotech-Start-up"-Unternehmen <100 MBq S-35 brauchen?
In welcher Form (fest, Pulver, Gas, flüssig etc., als Element oder Verbindung) liegt das vor?
Wenn ich mir recht erinnere, so wird/wurde Schwefel 35 gerne für Bindungsstudien von G-Protein-gekoppelten Rezeptoren verwendet. Da reichen solche Aktivitätsmengen locker für ein paar assays. Ich denke es gibt heute Alternativen dafür, aber wenn die Erfahrung und das Equipment da ist, warum nicht?
M.E. sollte die AKtivität entweder als lyophilisiertes Protein oder in Lösung vorliegen.
ZitatWie wird das hergestellt?
Ich vermute in einem Zyklotron.
ZitatWäre es wirklich vorstellbar, dass soetwas ohne behördliche Genehmigung abläuft?
Schwer zu sagen. Wenn es der einzige radioaktive assay ist und man deutlich unter der Freigrenze bleibt, vielleicht. Allerdings sehe ich die 100 Bq/g eher als Problem, da die molaren/spezifischen Aktivitäten sicher deutlich höher sind.

etalon

Zitat von: DG0MG am 21. Februar 2023, 13:19...
Es steht auch in der Antwort ( @etalon  wirds freuen  ;) ) dass Anlage 4, Spalte 3 ebenfalls zu beachten ist, da stehen 100 Bq/g.
...

Wieso sollte mich das freuen?  ;)
Ich finde es furchtbar, dass Gesetze nicht eindeutig und unmissverständlich formuliert sind, sondern Spielraum zur Interpretation lassen. Das hebelt den Grundsatz ,,vor dem Gesetz sind alle gleich" komplett aus und reduziert das Ergebnis darauf, wer (oder wessen Anwalt) die besseren pro und contra Argumente vorbringen kann... aber zuweilen liegt der Markus auch mal richtig mit dem was er von sich gibt...  :D  :D

Zitat von: DG0MG am 21. Februar 2023, 13:19...
"ausreichend sichergestellt ist, dass die radioaktiven Stoffe nicht zusammenwirken können." Den Satz fand ich interessant, wo steht der?
...

Den kenne ich nur im Zusammenhang mit dem ADR. Im Rahmen einer Umgangsgenehmigung ist mir der noch nie untergekommen...

Zitat von: DG0MG am 21. Februar 2023, 13:19...
Andererseits wird (vermutlich richtigerweise) darauf hingewiesen, dass zur Bestimmung der Gesamtaktivität unterhalb Freigrenze sowohl "frisches" wie auch der zum Abklingen gestellte Abfall zu berücksichtigen ist.
...

Ein Genehmigungsinhaber muss jede Aktivität innerhalb seines Genehmigungsbereichs bilanzieren, auch unterhalb der Freigrenze. Daher ja, es müssen auch die Abfälle berücksichtigt werden.

DG0MG

Zitat von: miles_teg am 21. Februar 2023, 13:54wird/wurde Schwefel 35 gerne für Bindungsstudien von G-Protein-gekoppelten Rezeptoren verwendet.

Kannst Du das bitte noch etwas allgemeinverständlicher erklären - so richtig für Dummies?
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miles_teg

Zitat von: DG0MG am 21. Februar 2023, 21:48
Zitat von: miles_teg am 21. Februar 2023, 13:54wird/wurde Schwefel 35 gerne für Bindungsstudien von G-Protein-gekoppelten Rezeptoren verwendet.

Kannst Du das bitte noch etwas allgemeinverständlicher erklären - so richtig für Dummies?

Mea culpa, das habe ich wohl ohne groß nachzudenken runtergeschrieben. :-D
Das Prinzip ist, das man eine Zielstruktur hat (oft ein Protein), an das verschiedene Stoffe binden können.
Wenn man nach chemischen Verbindungen sucht, die z.B. einen gewissen Stoffwechselprozess beeinflussen sollen (also z.B. Arzneimittel), so werden oft viele Kandidaten synthetisiert. Die "Stärke", mit der diese Verbindungen mit der Zielstruktur interagieren (Affinität), ist eines der Kriterien was dann geprüft wird. Dafür führt man dann Bindungsstudien durch, in denen die Affinität gemessen wird. Man markiert den Kandidaten radioaktiv und lässt ihn in definierten Konzentrationen an die Zielstruktur binden. Nach einer gewissen Zeit entfernt man den freien Stoff und misst die Radioaktivität. Durch der Menge der (gebundenen) Radioaktivität und mit pharmakologischen Modellen weiß man jetzt wie stark die Bindung des neuen Stoffes ist.
Das tolle an Radioaktivität ist halt das man sie sehr gut detektieren kann. Dank der Atombombe und den damit  verbundenen Industrien standen in den 50er und 60er Jahren plötzliche verschiedene Radionuklide zur Verfügung, die man in Stoffe einbauen und so ihre Verteilung oder Bindung in einem biologischen System verfolgen konnte. Die gesamten Biowissenschaften (und damit auch die Arzneimittelforschung) der letzten 70 Jahre sind auf einem nuklearen Fundament gebaut. Ohne die Bombe (und Forschung die sie ermöglichte) wären viele biologische Erkenntnisse und medizinische Fortschritte nicht oder erst viel später möglich gewesen. Das ist den meisten Menschen gar nicht klar...
Ein Beispiel
Nikotin ist z.B. ein Agonist (ein Stoff der eine Reaktion auslöst) für nikotinische Acetylcholinrezeptoren. Da er mit dem körpereigenen Stoff Acetylcholin um die gleichen Zielstrukturen (nikotinische Acetylcholinrezeptoren) konkurriert, müsste man bei gleicher Affinität entweder viel mehr ins System bringen oder einen Stoff mit höherer Affinität (wie eben Nikotin) haben.
Bei einem Bindungsassay würde man jetzt radioaktives Acetylcholin messen (wieviel wird in gewisser Zeit gebunden) und das mit radioaktivem Nikotin vergleichen.
Für Dopaminrezeptoren hat man früher übriges gerne radioaktives Kokain genommen :-D Die gute alte Zeit...
Sehr vereinfacht funktioniert so auch die Suche nach neuen Arzneimitteln oder Sonden für die Diagnostik.
G-Protein gekoppelte Rezeptoren sind einfach ein bestimmter Typ von Zielstruktur, die, sehr vereinfacht ausgedrückt, viel indirekter funktionieren. Um bei den nikotinischen Acetylcholinrezeptoren zu bleiben: das sind Ionenkanäle. Der Kanal öffnet sich wenn Acetylcholin (oder Nikotin) bindet und schleust Natrium oder Calcium in die Zelle. Das ruft Veränderungen hervor. Bei einem G-Protein gekoppelten Rezeptor sind es die G-Proteine die diese Veränderungen umsetzen. 35-Schwefel-markiertes GTPgammaS lässt sich messen wenn die Zielstruktur "aktiviert" wird und über die Menge lässt sich so die Stärke der Aktivierung der G-Protein gekoppelten Zielstruktur zu bestimmen.
Ist das etwas verständlicher?


DG0MG

Zitat von: miles_teg am 21. Februar 2023, 22:37Ist das etwas verständlicher?

a weng  ;D Danke!

Die Radioaktivität ist also nur ein Mittel zur Forschung und hat mit dem späteren Endprodukt (was auch immer) nichts zu tun.

Es reichen "kleine" Mengen Aktivität, weil man eine zahlenmäßig begrenzte Anzahl Proben (Laborkapazität) untereinander messtechnisch vergleichen will ("Welche Probe hat am meisten?"). Eine insgesamt geringe Menge an Aktivität (<Freigrenze) kann man durch entsprechende Empfindlichkeit des Messgerätes wieder wettmachen.

So richtig?

Zitat von: miles_teg am 21. Februar 2023, 13:54sollte die AKtivität entweder als lyophilisiertes Protein oder in Lösung vorliegen.

In welcher Größe muss ich mir etwa eine einzelne Probe vorstellen? 1/10/100 ml?

Zur Vorstellung wie "dünne" die Gesamtaktivität von <100 MBq verteilt sein müsste, um auch Spalte 3 zu erfüllen (100 Bq/g): Gehen wir von Wasser aus (1 g/Milliliter). Die 100 MBq müssten in 1 Mio Milliliter (=1000 Liter, =1 m3) Wasser verteilt sein, um auch Spalte 3 Genüge zu tun. Ob das dann noch mit vertretbarem Aufwand messtechnisch zu erfassen ist?
"Bling!": Irgendjemand Egales hat irgendetwas Egales getan! Schnell hingucken!

miles_teg

Zitat von: DG0MG am 22. Februar 2023, 09:46a weng  ;D Danke!
Oh my! Und ich habe mir Mühe gegeben das einfach und verständlich zu formulieren... :-\

Zitat von: DG0MG am 22. Februar 2023, 09:46Die Radioaktivität ist also nur ein Mittel zur Forschung und hat mit dem späteren Endprodukt (was auch immer) nichts zu tun.
So meine Vermutung. Ich weiß nicht ob 35S wirklich für ein Bindungsassay benutzt wird. Es ist nur die einzige Anwendung die mir bekannt ist.

Zitat von: DG0MG am 22. Februar 2023, 09:46Es reichen "kleine" Mengen Aktivität, weil man eine zahlenmäßig begrenzte Anzahl Proben (Laborkapazität) untereinander messtechnisch vergleichen will ("Welche Probe hat am meisten?").
Wenn es sich um ein Bindungsassay handelt, ja.

Zitat von: DG0MG am 22. Februar 2023, 09:46Eine insgesamt geringe Menge an Aktivität (<Freigrenze) kann man durch entsprechende Empfindlichkeit des Messgerätes wieder wettmachen.
Jein.  ;D
Der Punkt ist, das man für solch ein assay nicht viel Aktivität braucht. Man arbeitete mit nativen Proteinen oder Zellen/Membranen, meist im µG-Bereich, die in geringen (µL) Volumina gelöst sind. Viel "Standard" Laborverbindungen (wie vermutlich  GTPgammaS  hier) von kommerziellen Anbietern haben eine hohe spezifische/molare Aktivität, also meist mehrere Stellen im Molekül die radioaktiv sind, daher meist genug Signal. Die Messtechnik ist also nicht unbedingt das Problem, die ist seit Jahrzehnten schon empfindlich genug.
Das Problem ist eher das man immer affinere Substanzen sucht. Das beinflusst auch die assays, weil man plötzlich geringere Mengen einsetzen muss, was dann den SNR beeinflusst.
Hättest Du mich vor 15 Jahren gefragt ob wir in absehbarer Zeit Liganden mit Affinität im picomolaren Bereich haben werden, so wäre ich skeptisch gewesen. Die Realität ist aber, das man in den letzten Jahren mehr und mehr solche Substanzen gesehen hat. Und die Analyse solch hochaffiner Verbindungen bringt neue Probleme mit sich.
Als Beispiel kann man die Entwicklung neuer Opioide sehen. Klassisches Morphin ist schon sehr potent, Tilidin und Fentanyl einige 100 mal potenter. Wenn man sich dann einige andere Fentanylderivate anschaut, so sind die Affinitäten um eine bis mehrere Größenordnungen höher. Die geschrieben, das bringt eigene Probleme mit sich.
Und ein 35-Schwefel-markiertes GTPgammaS assay wird zum Beispiele für die Testung von Opioiden genutzt. ;-)


miles_teg

Zitat von: DG0MG am 22. Februar 2023, 09:46In welcher Größe muss ich mir etwa eine einzelne Probe vorstellen? 1/10/100 ml?

Wie bereits geschrieben, je nach Vorgehensweise ist der Finale Ansatz wahrscheinlich selten mehr als einstellige mL. Dem werden dann µL an Radioligand zugesetzt.

Zitat von: DG0MG am 22. Februar 2023, 09:46Zur Vorstellung wie "dünne" die Gesamtaktivität von <100 MBq verteilt sein müsste, um auch Spalte 3 zu erfüllen (100 Bq/g): Gehen wir von Wasser aus (1 g/Milliliter). Die 100 MBq müssten in 1 Mio Milliliter (=1000 Liter, =1 m3) Wasser verteilt sein, um auch Spalte 3 Genüge zu tun. Ob das dann noch mit vertretbarem Aufwand messtechnisch zu erfassen ist?
Genau da sehe ich das Problem, denn so kann man messtechnisch keinen assay fahren. Nur mit hoher spezifischer/molarer Aktivität ergibt das Sinn. Aber mir ist nicht ganz klar wie das auf
Ein Beispiel dafür sind kommerzielle Tritiummarkierte Liganden. Diese kommen, bei optimierter Markierung, oft mit einer molaren Aktivität von 1-3 TBq/mmol, dann in Portionen von meist 9 - 37 MBq/mL. Wenn ich das jetzt richtig im Kopf überschlage, Je nach Verbindung hätte man dann deutlich mehr als 100 Bq/g. Für ein 125I-markiertes Protein habe ich etwas im Bereich um 10 MBq/µg im Hinterkopf...

DG0MG

In diesem Artikel geht die Geschichte des Biotech-Startups weiter - man will wissen, ob man einen Strahlenschutzbeauftragten (SSB) braucht:

https://www.komnet.nrw.de/_sitetools/dialog/7832

Offenbar verlangt die Firma, bei der das S-35 bestellt werden soll, ein Schreiben eines SSB.

Weiterhin wird berichtet, dass im selben Gebäude, andere Etage von einer anderen Firma bereits Arbeiten unter der Freigrenze stattfinden und gefragt, ob man diese beiden Sachen getrennt betrachten könne.

In der Antwort taucht wieder das mögliche "Zusammenwirken" der einzelnen Stoffe in den verschiedenen Etagen auf, davon sei das abhängig.
"Bling!": Irgendjemand Egales hat irgendetwas Egales getan! Schnell hingucken!

DG0MG

Simon erzählt Einiges über S-35, u.a., wo man es kaufen kann  ;)
Es ist so niederenergetisch, dass man es außerhalb der Plastikflasche kaum messen kann.


"Bling!": Irgendjemand Egales hat irgendetwas Egales getan! Schnell hingucken!

Radium

Das ist ja interessant, und was kann man da noch mit machen außer das für Bindungsstudien zu benutzen? :boredom:
Geigerzähler: DP-66, FH 40 TV, IT-65, Szintillationszähler: RAM-63,

Henri

Zitat von: DG0MG am 27. Oktober 2023, 18:08Simon erzählt Einiges über S-35, u.a., wo man es kaufen kann  ;)

...wenn man eine gut gefüllte Geldbörse hat!

Bei der kleinsten erwerbbaren Menge zerfällt am Tag immerhin S-35 im Wert von 1,-. Bei der größten Packung sind es schon fast 8,-/Tag  8)

miles_teg

Zitat von: Henri am 28. Oktober 2023, 00:03
Zitat von: DG0MG am 27. Oktober 2023, 18:08Simon erzählt Einiges über S-35, u.a., wo man es kaufen kann  ;)

...wenn man eine gut gefüllte Geldbörse hat!

Bei der kleinsten erwerbbaren Menge zerfällt am Tag immerhin S-35 im Wert von 1,-. Bei der größten Packung sind es schon fast 8,-/Tag  8)
Perkin Elmer (früher Amersham) hat schon immer stattliche Preise gehabt... Aber im Vergleich zu Tritiumverbindungen sind 1 mCi ja schon ein Schnapper ;D

Kermit

Zitat von: Radium am 27. Oktober 2023, 22:48nd was kann man da noch mit machen außer das für Bindungsstudien zu benutzen

Tumordiagnostik, Zellversuche (Überlebenskurven), Tracerherstellung wenn die Wirkung von Schwefel im Stoffwechsel untersucht wird

gugst Du hier:

https://www2.chemie.uni-erlangen.de/projects/vsc/chemie-mediziner-neu/atombau/radioaktiv_medizin.html

;)