Sellafield (Windscale) UK

Begonnen von wrdmstr inc., 21. Dezember 2022, 21:15

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wrdmstr inc.

Warum heisst die Stadt Windscale in Nordwestengland heutzutage Sellafield? Aus dem gleichen Grund warum die Adolf-Hitler-Strasse in Aschaffenburg jetzt Frohsinnstraße heisst  :good2: - ein Aufpolieren der damit negativ besetzten öffentlichen Wahrnehmung.

Kurzfassung was passiert ist: mit Graphit moderierter "Pile" /Reaktor wurde am 10. Oktober 1957 wegen der durch Neutronen sich aufbauenden Wigner Energie ausgeheizt, Teile verklemmten, Natururan fing an zu brennen, die Glasfaserfilter fingen das ganze nur unzureichend ab und durch Wasserdampf beim Löschversuch verteilte sich Inventar in der Umgebung. Eigentlich wollte man beim Bau auch noch die Filter weglassen..

https://de.wikipedia.org/wiki/Windscale-Brand

bzw etwas detailierter in der englischen Wikipedia Version

https://www.youtube.com/watch?v=vcsyMvQtlKs

Rückbau und Fotos vom Inneren:

https://www.youtube.com/watch?v=H-O1f9PEWSU

Bis 2020 wurden durch monitoring an den Stränden über 3000 radioaktive Partikel gefunden :

https://www.gov.uk/government/publications/monitoring-beaches-near-sellafield-for-radioactive-material/monitoring-beaches-near-sellafield-for-radioactive-material

Henri

Zitat von: wrdmstr inc. am 21. Dezember 2022, 21:15Bis 2020 wurden durch monitoring an den Stränden über 3000 radioaktive Partikel gefunden :

https://www.gov.uk/government/publications/monitoring-beaches-near-sellafield-for-radioactive-material/monitoring-beaches-near-sellafield-for-radioactive-material

Der Artikel ist interessant!

Als "Partikel" werden Objekte von maximal 2 mm Größe definiert. Interessanterweise hat man am Strand von Sellafield 716 Objekte gefunden, die größer waren.

Einige scheinen auch ziemlich "heiß" zu sein: als Risiken werden weiter unten temporäre Hautrötung und Gewebeschädigung bei einem mehrstündigen direkten Kontakt genannt.

Im Schnitt haben sie bislang ca. 2,7 radioaktive Objekte pro Hektar gefunden, allerdings verteilt auf einen Suchzeitraum 14 Jahre. Man erfährt leider nicht, ob es mehr oder weniger belastete Bereiche gibt.

Insgesamt hat es dort wohl so einige Unfälle gegeben (kopiert von https://www.greenpeace.de/klimaschutz/energiewende/atomausstieg/sellafield-traurige-bilanz):

Zitat1955
Hohe Verstrahlung von 251 Arbeitern bei einer Reparaturarbeit.

1957
In einem Plutoniumproduktionsreaktor fängt der Reaktorkern Feuer. Der Brand kann erst nach mehreren Tagen unter Kontrolle gebracht werden. Dies war der schwerste Atomunfall vor Tschernobyl. Die radioaktive Wolke reichte bis in die Schweiz. Die Regierung informierte die Bevölkerung nicht über den Unfall. Niemand wurde evakuiert, obwohl die Menschen in der Umgebung das Zehnfache ihrer Lebens(!)-Dosis an Strahlung erhielten. Nach offiziellen Schätzungen gab es durch diesen Unfall 33 Tote und mehr als 200 Fälle von Schilddrüsenkrebs - die tatsächlichen Zahlen dürften jedoch weitaus höher liegen.

1969
Plutonium gelangt aus der Wiederaufarbeitungsanlage in die Umwelt.

1973
Bei einer Explosion werden 35 Arbeiter verseucht. Der betroffene Anlagenteil muss stillgelegt werden.

1976
Aus einem Leck treten täglich 450 Liter radioaktive Flüssigkeit aus. Es kann jahrelang nicht abgedichtet werden.

1979
Ein anderes Leck wird entdeckt, aus dem im Laufe von zwei Jahren radioaktive Stoffe mit einer Strahlung von rund 100.000 Curie ausgetreten sind.

1981
Radioaktives Jod gelangt in die Umgebung, weil nicht ausreichend abgekühlte Brennelemente verarbeitet wurden. Die Milch in der Umgebung wird verseucht.

1983
Radioaktive Lösungsmittel und Chemikalien werden bedenkenlos in die Irische See geleitet. Weite Strandabschnitte müssen gesperrt werden. Die Betreiberfirma British Nuclear Fuels (BNFL) wird Jahre später zu 10.000 Pfund Geldstrafe verurteilt - wegen Verletzung der Informationspflicht!

1986
Eine Serie von Unfällen ereignet sich. Irrtümlich gelangen dabei u.a. 250 Kilogramm Uran ins Meer. Plutonium entweicht in die Atmosphäre. Elf Personen werden verstrahlt.

1988
Ein Labor wird mit Plutonium verseucht, das Personal evakuiert.

War jemand von euch schon mal vor Ort?

Viele Grüße!

Henri

Henri

Falls sich jemand dort mal selber auf  "Spurensuche" begeben möchte: in diesem Video wird eine professionelle Probennahme (für die Bestimmung der Iod-Isotopenverhältnisse I-129/I-127) gezeigt. Damit kann man sich schon mal darauf vorbereiten, was einen landschaftlich erwartet:


Gummistiefel nicht vergessen! ;D


Prospektor

Gute Sedimentproben kann man wohl in der Mündung des River Esk bei Ravenglass entnehmen  ;)

Ansonsten sind diese Dokus zu empfehlen, auch um die Hintergründe zu verstehen:





Ein recht aktuelles Video:

https://www.dailymotion.com/video/x5yd169

U235

Es wurde z.B. auch ein Weinanbaugebiet umbenannt, nach einem Störfall im nahegelegenen AKW:

https://de.wikipedia.org/wiki/Grignan-les-Adh%C3%A9mar

Neuer Name, neues Glück? :D

Henri

Zitat von: Prospektor am 22. Dezember 2022, 11:09Ansonsten sind diese Dokus zu empfehlen, auch um die Hintergründe zu verstehen:


Interessant, dass die BBC-Dokumentation die in letzter Minute in den Kamin eingebauten Filter als genialen Einfall eines einzelnen hellen Kopfes lobt und davon spricht, sie hätten die ganze Region Englands gerettet, während in der ersten Doku gesagt wird, die Filter hätten nie richtig funktioniert und bereits vor dem Brand zu einer massiven Kontamination der Umgebung geführt, die allerdings erst durch den Brand nicht mehr zu leugnen gewesen wäre.  :unknw:

DL8BCN

Was da am Strand in England wohl heute noch strahlt?
Ob das hauptsächlich Cäsium-137 ist?
Vermutlich wird das wohl ein Radionuklid-Gemisch mit längerer HWZ sein?

NoLi

Zitat von: Henri am 23. Dezember 2022, 01:17Interessant, dass die BBC-Dokumentation die in letzter Minute in den Kamin eingebauten Filter als genialen Einfall eines einzelnen hellen Kopfes lobt und davon spricht, sie hätten die ganze Region Englands gerettet, während in der ersten Doku gesagt wird, die Filter hätten nie richtig funktioniert und bereits vor dem Brand zu einer massiven Kontamination der Umgebung geführt, die allerdings erst durch den Brand nicht mehr zu leugnen gewesen wäre.  :unknw:
Na ja, wenn die Abluftfilter nicht funktioniert hätten, müsste die Umgebungskontamination, vor allem durch Cs-137, im näheren Bereich heute noch eine Besiedlung unmöglich machen und für eine deutliche Ortsdosisleistung sorgen...insbesondere nach dem Brand (siehe Tschernobyl). Dem ist ja aber wohl nicht so.

Norbert

Henri

Zitat von: NoLi am 23. Dezember 2022, 10:57Na ja, wenn die Abluftfilter nicht funktioniert hätten, müsste die Umgebungskontamination, vor allem durch Cs-137, im näheren Bereich heute noch eine Besiedlung unmöglich machen und für eine deutliche Ortsdosisleistung sorgen...insbesondere nach dem Brand (siehe Tschernobyl). Dem ist ja aber wohl nicht so.

Beim Brand soll ja angeblich alles raus aufs Meer geweht worden sein.

Ein bißchen was werden die Filter sicherlich zurückgehalten haben. Die Aussage "sie wurden regelmäßig gewaschen" fand ich aber auch erschreckend. Da ist dann jemand hochgeklettert, hat die erheblich kontaminierten Matten seitlich rausgezogen... Wenn man sich dem Risko bewußt gewesen wäre, hätte man die doch ersetzt und deponiert.

Das gesamte Design war schon höchst fragwürdig. Genauso, wie den ganzen Müll einfach in einen Freiluft-Swimmingpool zu kippen und dann 50 Jahre lang nicht mehr beizugehen.

Flipflop

Hallo Zusammen,
habe noch diese Seite gefunden, im Archiv hat es noch ein paar interessante Artikel.

https://www.damninteresting.com/the-windscale-disaster/