Warum so niedrige Freigrenzen?

Begonnen von JB555, 07. November 2022, 21:15

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JB555

Hallo,
Warum liegen die Freigrenzen für fast alle Nuklide in Deutschland so niedrig? Zum Beispiel Americium 241. Die typischen Ionisationsrauchmelder liegen etwa bei der dreifachen Freigrenze und sind fast auf der ganzen Welt erlaubt. Ich habe mal einen aus UK mitgebracht, wo ich häufig bin und konnte die schwache Gammastrahlung oder Bremsstrahlung nicht außen am Gehäuse messen. Das Ding hängt an meiner Decke zusammen mit einem photoelektrischen (Pflicht) und stört überhaupt nicht. Ionisationsrauchmelder erkennen flammende Brände sehr viel schneller. Eine Kombination aus Ionisation und Photoelektrisch wäre perfekt, ist aber leider nicht erlaubt.

NuclearPhoenix

Zitat von: JB555 am 07. November 2022, 21:15Warum liegen die Freigrenzen für fast alle Nuklide in Deutschland so niedrig? Zum Beispiel Americium 241.
Weil man nicht will, dass du sowas bei dir zu Hause hast. Wie das wirklich begründet wird, kann dir sicher jemand hier sagen. Im Endeffekt wird es bestimmt was mit "gefährlich", "Atommüll" oder irgendwas dazwischen sein. ;)  :unknw:
Sinnvoll ist das meiner Meinung nach auch nicht zu 100%, aber es ist illegal, deshalb ist es verboten ;D

DL3HRT

ZitatWarum liegen die Freigrenzen für fast alle Nuklide in Deutschland so niedrig?
Warum nicht? Das Problem mit den Rauchmeldern ist wohl in UK/USA, dass sie ganz normal über den Hausmüll entsorgt werden können, was man mit den niedrigen Freigrenzen und damit dem Quasi-Verbot in Deutschland umgeht. Es fallen mir sonst keine Anwendungen im Consumer-Bereich ein, wo höhere Freigrenzen notwendig sind. Die "Erbstücke" aus Uranglas, mit Uranglasur oder Radiumleuchtfarbe sind rechtlich gedeckt, also wo sonst noch?

Es gibt sicher sehr viel Mitmenschen (vermutlich sogar die Mehrheit), welche die Frage sogar umdrehen würden: "Warum liegen die Freigrenzen für fast alle Nuklide in Deutschland so niedrig hoch?"  ;)

U235

Zitat von: DL3HRT am 08. November 2022, 07:07Die "Erbstücke" aus Uranglas, mit Uranglasur oder Radiumleuchtfarbe sind rechtlich gedeckt, also wo sonst noch?

Wie ist das gemeint? Es gibt doch auch für Radium eine Freigrenze, da ist es doch egal, ob das Radium in der Uhr oder an einem Schalter klebt?

nukulus

wenn ich nicht ganz falsch liege wird die freigrenze durch die gefährlichkeit beeinflusst. wie viel vom isotop benötige ich dass ich als 0815-bürger die jahres/lebensdosis bei unsachgemässer behandlung des gegenstandes abbekommen könnte.

die ist meines wissens nach bei Am241 eben sehr gering.

auf der anderen seite kann man sich auch fragen:
warum braucht man material zuhause welches über der üblichen natürlichen strahlung liegt?
kannst du mir eine anwendung nennen die es erfordert eine starke quelle zu haben? nein, freizeitbeschäftigung ist keine :)

gegenfrage: warum ist die hürde schusswaffen kaufen zu können in D so hoch?

ich bin grundsätzlich gegen jegliche verbote für vernünftige UND ausgebildete personen - doch wenn man sich ein bisschen ins thema radioaktivität einliest merkt man schnell dass es viele gefahren birgt die man als unwissenden nicht wissen kann. radiumzeiger die nicht mehr leuchten z.b. resp. freie zeiger in einem briefumschlag...

Henri

Zitat von: DL3HRT am 08. November 2022, 07:07Es gibt sicher sehr viel Mitmenschen (vermutlich sogar die Mehrheit), welche die Frage sogar umdrehen würden: "Warum liegen die Freigrenzen für fast alle Nuklide in Deutschland so niedrig hoch?"  ;)

In Bezug auf Tritium würde ich das definitiv unterschreiben. Ich finde es "bemerkenswert", dass man ein GBq davon als Angelpose im Teich versenken darf, wo es dann später Kinder finden und mit nem Stein zerkloppen. Oder es landet im Hausmüll und somit in der Müllverbrennungsanlage. Und das alles nur, weil man es sich dann erspart, gelegentlich mal die Batterie im Posenlicht zu wechseln.

Hier wurde die Freigrenze so hoch angesetzt, weil die Radiotoxizität als gering erachtet wird. Aber das ist ja schon seit Jahren heftig umstritten, ob das wirklich so ist.


Zu den Rauchmeldern: die haben ja nur eine begrenzte Lebensdauer, werden aber millionenfach verkauft. Damit steht man bei I-Meldern durchaus vor einem Entsorgungsproblem. Fürs Recycling müsste man die demontieren und die Strahler ausbauen. Das ist aber teuer und nicht ungefährlich, da das Americium nur auf eine Folie aufgewalzt ist und sich im Laufe der Zeit ablösen kann. In manchen Ländern wird der Hausmüll einfach deponiert wie er ist, da ist die "Entsorgung" vielleicht noch vertretbar. In Deutschland wird aber viel verbrannt. Dabei würde das Americium dann unmittelbar freigesetzt und eine Gefährdung darstellen. Elektroschrott landet zudem oft im Ausland und wird unter sehr fragwürdigen Bedingungen weiterbearbeitet. Auch dort haben radioaktive Quellen nichts zu suchen.

Ionisationsmelder haben in gewissen Bereichen Vorteile, wo es zu Bränden ohne starke Rauchentwicklung kommt. In Privathaushalten qualmt es in der Regel bei einem Brand genug. In der Industrie gibt es Ausnahmeregelungen für Spezialanwendungen, wobei die I-Melder nur gemietet werden, denn jegliche Handhabung erfordert eine spezielle Lizenz.

Es gibt auch sehr viele Länder, in denen noch Asbest verwendet wird. Trotzdem wäre das jetzt kein Argument für mich, meine Heizung mit Asbestwolle zu isolieren. Wenn von einer Sache eine Gefährdung ausgeht und es gibt gleichwertige Alternativen, sollte man doch als (moderne) Gesellschaft auf die Alternativen setzen.

Viele Grüße!

Henri




U235

Nochmal zum Thema Uhren mit Radiumleuchtfarbe: Die Freigrenzen für das Element gelten doch auch für die alten Uhren mit Leuchtfarbe oder werden da Haushaltsgegenstände anders beurteilt?

Was sagt das StrlSchG. dazu?

DL3HRT

ZitatWie ist das gemeint? Es gibt doch auch für Radium eine Freigrenze, da ist es doch egal, ob das Radium in der Uhr oder an einem Schalter klebt?
Prinziell hast du Recht aber alte Gegenstände/Erbstücke genießen eine Art Besitz-Bestandsschutz.

Wir hatten schon einmal das Thema Uhren mit Radiumleuchtfarbe:
https://www.geigerzaehlerforum.de/index.php?topic=185.0

Du darfst sie also besitzen aber nicht kaufen oder verkaufen.

NoLi

Zitat von: DL3HRT am 08. November 2022, 14:33
ZitatWie ist das gemeint? Es gibt doch auch für Radium eine Freigrenze, da ist es doch egal, ob das Radium in der Uhr oder an einem Schalter klebt?
Prinziell hast du Recht aber alte Gegenstände/Erbstücke genießen eine Art Besitz-Bestandsschutz.
...
Nur bedingt!
Sollten die alten Gegenstände/Erbstücke so viel Radium enthalten, dass die effektive Jahresdosis 1 mSv überschreitet, kann die Aufsichtsbehörde/Polizei bei Kenntnisnahme eine Beschlagnahme zwecks Auflagenerteilung oder Entsorgung anordnen und durchführen.

Norbert

nukulus

Zitat von: NoLi am 08. November 2022, 19:44
Zitat von: DL3HRT am 08. November 2022, 14:33
ZitatWie ist das gemeint? Es gibt doch auch für Radium eine Freigrenze, da ist es doch egal, ob das Radium in der Uhr oder an einem Schalter klebt?
Prinziell hast du Recht aber alte Gegenstände/Erbstücke genießen eine Art Besitz-Bestandsschutz.
...
Nur bedingt!
Sollten die alten Gegenstände/Erbstücke so viel Radium enthalten, dass die effektive Jahresdosis 1 mSv überschreitet, kann die Aufsichtsbehörde/Polizei bei Kenntnisnahme eine Beschlagnahme zwecks Auflagenerteilung oder Entsorgung anordnen und durchführen.

Norbert

hier die regelung in der schweiz:

https://www.bag.admin.ch/dam/bag/de/dokumente/str/str-wegleitungen/faktenblaetter/radium-uhren.pdf.download.pdf/Strahlenschutz_Faktenblatt_Radium-Uhren_DE.pdf


Bewilligungspflicht
Radiumhaltige Uhren und Uhrenbestandteile gelten
als radiologische Altlasten (Art. 149 StSV) [1] und benötigen heute eine Umgangsbewilligung, wenn die
enthaltene Aktivität die Bewilligungsgrenze von 2 kBq
übersteigt (Anhang 3 StSV) [1], was in der Regel schon
ab wenigen Stücken der Fall ist. Als Umgang gilt das
Sammeln, Lagern, Ausstellen, die Verwendung, das
Reparieren und die Weitergabe von radiumhaltigem
Material. Für den Besitz einzelner Uhren wird keine
Bewilligung eingefordert, sind jedoch mehrere Uhren,
Wecker und weitere radiumhaltigen Bestandteile vorhanden, muss dafür eine Bewilligung beantragt werden.

JB555

Der Sache mit der Entsorgung kann ich natürlich zustimmen, ich weiß auch nicht, wie ich das Ding in 10,20,30 Jahren wieder loswerde... Die HWZ liegt ja immerhin bei über 400 Jahren. In DE wird man sowas was über der Freigrenze liegt wahrscheinlich gar nicht los. Die Gefährlichkeit von 1GBq H3 kann ich nicht einschätzen, in Form von überschwerem Wasser kann es sicher gut aufgenommen werden, elementar dürfte es wieder ausgeatmet werden. Unbeschädigt sind die H3 Lichter natürlich nicht sonderlich gefährlich, nach 25 Jahren hat man noch etwa 1/4 der Aktivität. Da ist Ra226 viel schlimmer.

NoLi

Weiter aus der Schweizer Regelung:

Zitat: " Weitergabe und Entsorgung
Handel und Weitergabe von radioaktiven Uhren und
Uhrenbestandteilen ohne Bewilligung ist grundsätz-
lich untersagt. Werden Stücke aus bewilligten Bestän-
den verkauft oder weitergegeben, ist das BAG zu in-
formieren. Händler müssen sich dabei vergewissern,
dass der Abnehmer von bewilligungspflichtigen Men-
gen an radiumhaltigen Material auch über eine gültige
Umgangsbewilligung verfügt.
Eine Entsorgung über konventionelle Entsorgungs-
wege ist verboten. Illegale Entsorgungen werden
möglicherweise bei Eingangsmessungen von Keh-
richtverbrennungsanlagen oder Metallrecyclingfirmen
festgestellt. Die Sicherstellung und Triagierung von
illegal entsorgtem radioaktivem Material kann hohe
Kosten generieren, welche gegebenenfalls dem Ver-
ursacher belastet werden. Für die Entsorgung von
radiumhaltigen Uhren und Uhrenbestandteilen ist das
BAG oder die Firma RC-Tritec [4] zu kontaktieren. Ein-
zelstücke nimmt das BAG kostenlos zur Entsorgung
entgegen. "


Dies ist quasi der Tod für den legalen Gebrauchtwarenhandel von Uhren und Wecker mit radiumhaltigen Leuchtfarben in der Schweiz.
Für eine Armbanduhr kann man ansetzen: im Glaskontakt Gamma-Dosisleistung 1 µSv/h  ~  2 kBq Ra-226.
Für einen Wecker kann man ansetzen: im Glaskontakt Gamma-Dosisleistung 0,5 µSv/h  ~  2 kBq Ra-226.
(Messgerät Automess-6150 AD2,4,6 ; FAG FH40F2)

Norbert


DG0MG

Zurück zur Frage des TO: Warum sind die Freigrenzen "so niedrig"?

Ich denke, man muss die Frage anders stellen: "So niedrig" impliziert, dass sie höher sein sollten. Aber braucht man das wirklich?
Deswegen fragt man besser: "Warum sind die Freigrenzen so, wie sie sind?"

Ein Indiz dafür, dass es nicht nur um die Dosis im ungünstigsten Fall geht, sondern tatsächlich auch um die Entsorgung bzw. unkontrollierte Verbreitung radioaktiver Stoffe im Müll ist die Halbwertszeit: Co-60 als starker Gamma-Strahler hat die zehnfache Freigrenze ggü. Am-241, nämlich immerhin 100 kBq! Dafür gibts ja eigentlich auch keinen wirklichen Grund. 100 kBq Co-60 in 1 cm Abstand sind immerhin 350 µSv/h! Aber die HWZ ist mit etwa 5 Jahren recht kurz.

Noch extremer bei Co-58, das mir schon bei einem Bekannten als Prüfstrahler in der Nuklearmedizin begegnet ist: Freigrenze 1 MBq, HWZ ~71 Tage. 1 MBq Co-58 in 1 cm Abstand sind ~1.5 mSv/h! Da würde man eigentlich nicht mehr von "so niedrigen" Freigrenzen sprechen.

Der Unterschied ist eben: Bis das Americium aus dem I-Melder weg ist, vergehen 4000 Jahre (10 HWZ), das Co-58 ist schon nach 2 Jahren quasi weg.

Hier nochmal der Link zur Liste mit den Freigrenzen: https://www.gesetze-im-internet.de/strlschv_2018/anlage_4.html
"Bling!": Irgendjemand Egales hat irgendetwas Egales getan! Schnell hingucken!

NoLi

Kurzdefinition:

"Mit dem Begriff Freigrenze wird eine Aktivität bezeichnet, von der bei üblicher Nutzung der Radioaktivität nur eine vernachlässigbar geringe Gefährdung ausgeht."

Hierbei spielt die effektive Ganzkörperdosisbelastung (Grenzwert 1 mSv/Jahr) durch äußere Bestrahlung sowie die interne Dosis bei z.B. Verschlucken oder Einatmen eine Rolle. In letzterem Fall müssen auch die chemische Verbindungen des Radionuklides sowie dessen Radiotoxizität berücksichtigt werden. Ferner fließen auch die charakteristischen kernphysikalischen Daten der Radionuklide (Strahlungsart, Strahlungsenergie, Halbwertszeit) mit ein.
Aus allen diesen Faktoren ergibt sich dann die Freigrenze eines Radionuklides.

Wen es genauer interessiert, hier ein Bericht dazu vom Bundesamt für Strahlenschutz:

https://doris.bfs.de/jspui/bitstream/urn:nbn:de:0221-2018050314804/9/BfS_2018_3614S70051_AP3.pdf

Norbert